News > Der frauenspezifische Ansatz in der Therapie von Essstörungen. Millimeter-Schritte: Möglichkeiten der Behandlung von Essstörungen |
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(aus: der Publikation Essstörungen: Hilfe für Angehörige, LehrerInnen und pädagogische Fachkräfte Herausgeberin: Frauengesundheitszentrums Kärnten – für 9 € bestellbar bei 04242 53055, www.fgz-kaernten.at) Essstörungen, haben sich in den letzten 30 Jahren epidemieartig verbreitet und betreffen in Österreich zumindest jede 15. Frau zumindest einmal in ihrem Leben.(Die Dunkelziffer ist wahrscheinlich um vieles höher.) In vielen klinischen Studien wurde nachgewiesen, dass Essstörungen langfristig am besten mittels Psychotherapie (in einigen Fällen mit medikamentöser Unterstützung durch Psychopharmaka) geheilt werden können. In einer Psychotherapie wird in einem geplanten Behandlungsprozess das problematische Essverhalten beeinflusst und dahinterliegende Gründe und Auslöser erforscht. Durch Erzählen, Erinnern, Verhaltensanalysen und durch Übungen kann so eine Änderung des Krankheitsbildes erfolgen. Grundlage und wichtiger Wirkfaktor einer Psychotherapie ist ein vertrauensvolles, gutes Verhältnis der Klientin zur behandelnden Therapeutin. 90-95% der von Essstörungen Betroffenen sind weiblich, Essstörungen sind gleichsam eine psychische „Frauenkrankheit“. In der Entstehung von Essstörungen wirken persönliche Faktoren wie eigene Entwicklung und das direkte familiäre Umfeld sowie der größere gesellschaftliche Hintergrund (sowie möglicherweise körperlich-genetische Dispositionen) zusammen. Deshalb sollten in der Therapie und Beratung der von Essstörungen betroffenen Frauen diese Aspekte miteinfließen. Hier ist ein auf die spezifische Situation von Mädchen und Frauen abgestimmter Ansatz in der Behandlung die adäquate Antwort: Als Hintergrund für diese frauenspezifische therapeutische Arbeit dienen tiefenpsychologische Entwicklungskonzepte, die die Herausbildung der Identität von Mädchen im Blickpunkt haben. Ebenso wird die spezielle Sozialisation von Frauen in unserer Gesellschaft in den Blick genommen. So erhalten Kinder von ganz klein an in der Interaktion mit ihren Müttern, Großmüttern, Tanten und Betreuerinnen, (unausgesprochene) Botschaften über die weiblichen Rollenbilder und ihre Schwierigkeiten: In einer ungeheuren Anstrengung versuchen unzählige Frauen, unterschiedlichen Rollen-Erwartungen wie Mutter, Geliebte, Beruf und Erfolg, Selbstverwirklichung und für andere da zu sein, zu erfüllen und unter einen Hut zu bringen. In der Pubertät und Adoleszenz, in der dramatische körperliche Veränderungen stattfinden, wird vielen Mädchen klar, dass sie ihre Entwicklung nicht einfach lenken, nicht alle Erwartungen erfüllen können. Da scheint die Kontrolle über den eigenen Körper, die eigene Nahrungsaufnahme noch das nächste und letzte Mittel, den Überblick und die Handlungsmacht über das eigene Leben zu bewahren. Dutzende Male am Tag werden sie ja mit den Körpern superdünner Modells konfrontiert, die die Botschaft übermitteln: Schlank (besser: mager) ist erfolgreich, ist schön und begehrenswert, ist glücklich. Der Kampf gegen die „Problemzonen“ und das Bemühen einem (unereichbaren) Schönheits-Norm-Ideal möglichst nahe zu kommen wird zum Alltag. Susie Orbach und Luise Eichenbaum entwickelten Ende der 70íger Jahre den Anti-Diät Ansatz der die Grundlagen frauenspezifischer Therapie zur Behandlung von Essstörungen formulierte. Dieser Ansatz beinhaltet einen Verzicht auf Diäten und fremde Expertenprogramme. Ziel ist die Etablierung eines neuen Verhältnisses zum Essen und damit auch zum eigenen Körper und der eigenen Person für die betroffene Frau. Frauenspezifische Arbeitsweise ist keine neue Psychotherapieform. Sie gründet sich auf die oben genannten Annahmen und berücksichtigt körperliche, psychische, familiäre, soziale und gesellschaftliche Aspekte. Die Beraterinnen und Therapeutinnen gehen auf diese Hintergründe je nach Problemlage ein und helfen den Frauen und Mädchen so, sich als weibliche Wesen in dieser Zeit in ihrem Gewordensein zu verstehen. So können die Betroffenen sich nicht (nur) mit ihren Defiziten sehen, sondern sich als Frauen auf ihrem Weg der Suche nach ihrer ganz speziellen, möglichst zu ihnen passenden Lebensweise mit all den damit verbundenen Schwierigkeiten zu verstehen. Ein Symptom dieser Schwierigkeiten ist dabei die Essstörung. Diese Ausweitung des Horizonts entlastet die Betroffenen, die ihr „Versagen“ nun nicht mehr allein sich selbst und ihrem Ungenügen oder ihrer Familie zuschreiben müssen. Dies fördert einen Heilungsprozess. Schritte auf dem therapeutischen Weg sind dabei das Anfreunden mit dem Symptom: Zu Beginn der Therapie haben alle Essgestörten Angst vor dem Essen und hassen sich ob ihres Umgangs damit. Das Verständnis für ihre Essprobleme und der Rückhalt, den essgestörte Frauen in der Therapie und der Therapiegruppe erfahren, ist ein wichtiges Wirkmoment für eine erfolgreiche Therapie. Das Gefühl mit so etwas ekligem oder absonderlichem wie einer Esssucht, Bulimie oder Magersucht nicht alleine da zu stehen, nimmt den Klientinnen viel von ihren Scham- und Schuldgefühlen. In den Gesprächen beginnen die Frauen zu verstehen, aus welcher Not heraus sie zu dem Mittel des Fastens, Erbrechens oder Überessens gegriffen haben. In der Therapie wird allmählich klar, welche Gefühle hinter dem Symptom verborgen liegen, die tiefer liegen als die vordergründige Angst vor dem Zunehmen oder Abnehmen. Die Frauen und Mädchen lernen, sich diese bisher unerlaubten oder unerwünschten („unweiblichen“) Gefühle einzugestehen und auszudrücken. Damit einher geht eine andere Einstellung gegenüber dem Essen und Fasten und das Symptom kann sukzessive losgelassen werden. Ein Anzeichen für den Fortschritt im Heilungsprozess ist, dass essgestörte Frauen und Mädchen zwischen dem körperlichen und dem seelischen Hunger unterscheiden können. Die Therapeutin unterstützt dabei die Frau, Wege zur Bedürfnisbefriedigung und Konfliktlösung in ihrem Alltag zu finden. Ziel ist ein Gleichgewicht zwischen den individuellen Wünschen und Bedürfnissen der Frauen und der Erfüllung von äußeren Anforderungen je nach Situation. So kann eine Veränderung des Lebensentwurfes, eine neue Haltung gegenüber FreundInnen und Familie entstehen. Viele Therapeutinnen integrieren körperorientierte Übungen und Methoden in die Therapie, die helfen, die Störung der Körperwahrnehmung und negative Besetzung der Leiblichkeit aufzuheben. Die Frauen sollen nicht mehr einen ständigen Kampf gegen den eigenen Körper führen, sondern können ihn und damit sich in ihrer Individualität akzeptieren und erleben lernen. Der Körper ist kein beliebig formbares Anhängsel, sondern Grundlage des Lebens und des eigenen Seins in dieser Welt. Freilich muss in der psychotherapeutischen Behandlung auch immer mit Rückschlägen gerechnet werden, aber Rückfälle gehören zum Prozess der Heilung und können wichtige Hinweise auf noch Fehlendes geben. Als wichtigste Veränderung während des Therapieprozesses geben die Klientinnen im nachhinein ein gebessertes Verhältnis zu sich selbst an. Sie verstehen sich als Frau in dieser Gesellschaft und sind sich ihrer Rollen bewusster geworden. Stärker als zuvor sehen sie auch die Fähigkeit entwickelt, ihre eigenen Interessen durchzusetzen, Aggressionen wahrzunehmen, ihre eigenen Distanzbedürfnisse anzuerkennen und auch den Wunsch nach Nähe zu empfinden. Die energieraubende Beschäftigung mit dem Essen und dem Wiederloswerden von Essen nimmt ab, sie haben mehr Zeit und Energie für anderes, Wichtigeres, Schöneres, das Symptom verschwindet nach und nach. So kann in diesem geschützten Rahmen einer Therapie nachgeholt werden, was in der gesellschaftlichen Wirklichkeit wie im sozialen Umfeld der betroffenen Frauen weitgehend fehlt: Frauen, die helfen, sich gegen zu hohe und widersprüchliche Anforderungen von innen und außen abgrenzen zu können. Die sich gegenseitig in ihren Bemühungen und Beziehungen wertschätzen und achten. Je mehr Frauen auf diesem Weg gehen und viele, individuell befriedigende Antworten in diesem Spannungsfeld vorleben, desto mehr Vorbilder werden unsere Töchter vorfinden und desto weniger müssen sie allein den krankmachenden Versprechungen einer manipulativen Werbewelt glauben. Essstörungen könnten so der Boden entzogen werden. Quelle: Publikation Essstörungen: Hilfe für Angehörige, LehrerInnen und pädagogische Fachkräfte. Herausgeberin: Frauengesundheitszentrums Kärnten |