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Geschichten aus dem Leben > Psychische Krankheiten aus Angehörigensicht


„Wo bist du? Ruf doch bitte mal zurück!“
Es war nach Mitternacht und meine Frau Jessica war wieder einmal nicht nach Hause gekommen. Und auch diesmal blieb mir nichts anderes übrig, als ihr eine Nachricht auf der Mobilbox zu hinterlassen.
Jessica und ich haben uns bei einem Auslandspraktikum kennen gelernt und wenn ich ehrlich bin, war es keine Liebe auf den ersten Blick. Aber wir haben uns gut verstanden und schon nach kurzer Zeit war sie schwanger. Und obwohl wir uns kaum kannten, haben wir beschlossen, zu heiraten und das Kind zu behalten.
Zu Beginn unserer Ehe haben wir noch kaum gestritten. Wenn es ein Problem gab, verschwand Jessica einfach. Und wenn sie dann ein oder zwei Stunden später wieder auftauchte, tat sie so, als wäre nichts gewesen. Damit hätte ich wahrscheinlich noch halbwegs leben können, allerdings wurde ihr Verhalten im Laufe der Zeit immer extremer! Mal schwieg sie tagelang vor sich hin, dann wieder war sie mürrisch und beinahe aggressiv und immer öfter geradezu übertrieben euphorisch! Wenn ich anfangs noch gehofft hatte, dass sich alles bald einspielen würde, musste ich mir mittlerweile eingestehen, dass das genaue Gegenteil der Fall war!

Seit unser Sohn auf der Welt war, wechselten Jessicas Stimmungen in immer kürzeren Abständen und natürlich bekam das auch der Kleine zu spüren. Toby war inzwischen etwas mehr als ein Jahr alt und obwohl Jessica ihn ganz sicher liebte, hatte sie doch nie eine richtige Beziehung zu ihm aufbauen können. Manchmal spielte sie mit ihm, als ob er eine Puppe wäre, nahm ihn auf den Arm, schaukelte und küsste ihn und schon im nächsten Moment war jedes Interesse erloschen. Und obwohl unser Sohn noch so klein war, schien er zu spüren, dass irgendetwas nicht stimmte. Toby war so ein süßer Kerl und alle, die ihn sahen, waren ganz begeistert von ihm. Alle, außer Jessica. Manchmal hatte ich den Eindruck, sie behandelte den Kleinen, als wäre er ein Fremdkörper, mit dem sie nichts anzufangen wusste. Das mitansehen zu müssen, tat mir in der Seele weh. Aber natürlich hing der Kleine an ihr und als sie dann vor ein paar Wochen begonnen hatte, abends regelmäßig allein wegzugehen, war ich kurz vorm Explodieren! Und so saß ich auch an diesem Abend wieder einmal da und hatte nicht die geringste Ahnung, wo Jessica war und wann sie nach Hause kommen würde.
„Spionierst du mir nach?“, war dann auch ihre erste Frage, als sie endlich da war. Natürlich war das absoluter Unsinn, inzwischen war es mir fast schon egal, dass meine Frau abends allein ausging. Allerdings war der Kleine den ganzen Abend unruhig und weinerlich gewesen und es hätte vielleicht nicht geschadet, wenn wir ihn gemeinsam zu Bett gebracht und beruhigt hätten. Aber natürlich stieß ich wieder mal auf taube Ohren.
„Du bist der Vater, also kümmere dich!“ Wie immer ergab ein Wort das andere und am Ende kam doch nichts dabei heraus. Je öfter ich auf Jessica einredete, dass der Kleine eben auch seine Mutter brauchte, desto schwieriger wurde es zwischen uns.

„Ich möchte wieder ins Ausland gehen.“ Als Jessica mir wenig später diese Mitteilung machte, dachte ich zuerst, sie würde wieder nur vor sich hinreden. Viel zu oft hatte ich mir in letzter Zeit schon ihre Pläne angehört und noch nie war etwas daraus geworden! An einem Tag wollte sie sich einen neuen Job suchen, am nächsten nochmal ins Ausland gehen, dann wieder eine zusätzliche Ausbildung machen oder in Alaska auf einer Hundefarm leben. Wenn ich ihr so zuhörte, hatte ich manchmal das Gefühl, ein kleines Kind reden zu hören! Ich konnte einfach nicht begreifen, dass eine erwachsene Frau so gar nicht wusste, was sie wollte! Als ich Jessica kennengelernt hatte, war sie mir so selbstsicher erschienen, voller Energie und Tatendrang, aber je länger wir zusammen waren, desto mehr musste ich mir eingestehen, wie sehr ich mich in ihr getäuscht hatte. Mittlerweile war mir klar, dass Jessica wie ein Blatt im Wind war, schon der kleinste Anlass konnte sie irritieren und aus der Bahn werfen. Als sie mir daher erklärte, dass sie „gerne wieder ins Ausland“ gehen würde, zuckte ich nur mit den Schultern. Ich hatte es einfach satt, mir ständig neue Fantasien anzuhören und deshalb war meine Antwort auch nicht allzu freundlich.
„Wolkenkuckucksheim wäre guter Ort für dich. Soll günstige Flüge geben.“
Und damit drehte zur Abwechslung einmal ich mich um, schnappte mir Toby und verließ ohne ein weiteres Wort die Wohnung. Ich hatte an dem Tag wirklich andere Sorgen, der Kleine musste in die Kinderkrippe, danach zum Arzt, und Geldverdienen stand ja immerhin auch noch auf dem Programm! So ließ ich Jessica einfach stehen und schmiss die Türe hinter mir zu. Wenn ich allerdings gewusst hätte, dass Toby seine Mutter gerade für ziemlich lange Zeit zum letzten Mal gesehen hatte, hätte ich wohl anders reagiert. Denn als ich an diesem Nachmittag gemeinsam mit ihm nach Hause kam, war Jessica weg.

„Es tut mir leid, aber ich muss hier raus!“
Jessica hatte mir nur eine kurze Notiz auf dem Küchentisch hinterlassen und als ich in die halbleeren Schränke schaute, war klar, dass sie so schnell nicht wiederkommen würde. Im Grunde war ich sogar froh, sie nicht mehr sehen zu müssen, in letzter Zeit hatte ich ihre Gegenwart kaum noch ertragen. Ich empfand das Zusammenleben mit Jessica mittlerweile als die reinste Folter und wenn ich alleine gewesen wäre, hätte ich in dem Moment ein paar Freunde angerufen und meine neu gewonnene Freiheit gefeiert! Aber um mich ging es hier erst in zweiter Linie, wir hatten ein kleines Kind und das brauchte seine Mutter! Und so versuchte ich wieder einmal, Jessica am Handy zu erreichen, doch wie üblich landete ich nur auf ihrer Sprachbox. Auch in den Tagen danach reagierte sie nicht auf meine Anrufe und Nachrichten und das fand ich dann doch ziemlich erschreckend.
„Wo zum Teufel steckt diese Frau?“ Auch in ihrem Bekanntenkreis wusste niemand, wo sie war und zu ihren Eltern hatte sie schon lange keinen Kontakt mehr. Aber wenigstens war Jessica in keinem der umliegenden Krankenhäuser aufzutreiben, vielleicht war ja zumindest das ein gutes Zeichen! Warum in aller Welt konnte sie sich nicht melden und sagen, was Sache war? Einfach zu verschwinden, was war das denn für eine Art? Oder hatte sie ihre Ankündigung wirklich wahr gemacht und war in den nächstbesten Flieger gestiegen? Ganz geheuer war mir die ganz Sache aber trotzdem nicht und als ich kurz davor war, meine Frau bei der Polizei als vermisst zu melden, schickte sie mir eine Textnachricht. Ich solle mir keine Sorgen machen, sie habe eine Auszeit gebraucht und würde sich bald melden.
„Und was machen wir jetzt, kleiner Mann?“ Aber mein Sohn schaute mich nur aus großen Augen an. Offenbar verließ er sich darauf, dass Papa das Kind schon schaukeln würde.

„Wie lange ist Jessica jetzt schon weg?“
„Fast vier Wochen und seither habe ich kaum etwas von ihr gehört.“
„Ich könnte diese Frau durch Sonne und Mond schießen!“ Die Wut meiner Mutter machte die Sache natürlich auch nicht besser.
„Wie soll das bloß weiter gehen?“ Natürlich machte meine Mutter sich Sorgen und nur mit Mühe und Not hatte ich sie daran hindern können, bei Toby und mir einzuziehen.
„Wir kommen schon zurecht, Mama, wirklich!“ Immerhin gab es auch mehr als genug alleinerziehende Mütter und die fragte auch nie jemand, wie es ihnen tagtäglich ging. Inzwischen war meine größte Wut verraucht und wenn Jessica ihren Sohn eines Tages doch noch sehen wollte, würde ich ihr keine Steine in den Weg legen. Ich war ohne Vater groß geworden und mein Kind sollte nicht ohne Mutter aufwachsen. Zumindest nicht länger als unbedingt notwendig! Natürlich würden Jessica und ich nie wieder zusammenleben und es war klar, dass ich so bald wie möglich die Scheidung wollte. Toby sollte in Zukunft bei mir leben, aber vielleicht würde sich seine Mutter eines Tages ja doch noch besinnen und den Kleinen zumindest ab und zu besuchen?
„Achte gut auf deine Wünsche, denn sie könnten in Erfüllung gehen!“
Diesen Satz hatte ich erst kürzlich irgendwo gelesen, allerdings hätte ich nicht gedacht, dass er sich so rasch bewahrheiten würde.

„Ich möchte Toby sehen.“ Mit dieser knappen Mitteilung stand Jessica wenig später vor mir.
Es war Sonntag und ich war gerade dabei, mit dem Kleinen in den Park zu gehen, als ich Jessica plötzlich am Gehweg vor unserem Wohnhaus auf uns zukommen sah. Allerdings musste ich zwei Mal hinsehen, bevor ich sie erkannte! Sie hatte ihr Haar kurz schneiden lassen und rot gefärbt.
„Was machst du denn hier?“ Im ersten Moment war ich so verblüfft, dass ich kaum etwas herausbrachte.
„Ich will Toby sehen.“ Jessica wiederholte ihre Aufforderung ohne Gruß und wenn ich nicht so perplex gewesen wäre, hätte ich wahrscheinlich schlagfertiger reagiert. So aber stand ich nur wie angewurzelt da und schaute zu, wie Jessica den Kleinen auf den Arm nahm und wie wild herumwirbelte. Gerade so, als ob überhaupt nichts gewesen wäre.
„Hallo, Toby! Ich bin wieder da! Freust du dich?“
Ehrlich gesagt, kann ich nicht sagen, ob unser Sohn glücklich war, seine Mutter zu sehen. Ich glaube, er war einfach nur überrascht und ziemlich irritiert und deshalb war es auch kein Wunder, dass er ein paar Augenblicke später in Tränen ausbrach. Und das war dann auch schon der Moment, in dem Jessicas Mutterliebe ein jähes Ende fand.
„Nimm du ihn!“ Mit diesen Worten drückte sie mir den Kleinen in die Hand und endlich hatte ich mich so weit gefangen, dass ich ein vernünftiges Wort herausbrachte. Ich erklärte der Mutter meines Sohnes, dass sie ihn jederzeit besuchen könne, aber nicht ohne Ankündigung und ich würde fürs Erste auch nicht zustimmen, dass sie alleine etwas mit ihm unternahm. Nie im Leben würde ich zulassen, dass Toby Schaden litt, er hatte ohnehin schon mehr als genug mitgemacht!

„Ist diese Frau von allen guten Geistern verlassen?“ Als ich meiner Mutter ein paar Tage später von Jessicas unangekündigtem Besuch erzählte, war sie empört. Und obwohl ich es nicht mochte, wenn sie über meine Noch-Ehefrau herzog, dämmerte auch mir inzwischen, dass irgendetwas hier ganz und gar nicht stimmen konnte. Denn Jessica hatte mir an diesem Sonntag zwar ihre neue Adresse aufgeschrieben und hoch und heilig versprochen, in Zukunft zumindest abzuheben, wenn ich anrief, trotzdem herrschte schon wenig später wieder die totale Funkstille.
Mir ging erst ein Licht auf, als ich ein paar Wochen später Post aus einer psychiatrischen Klinik bekam. Jessica hatte sich freiwillig stationär aufnehmen lassen. Sie teilte mir in ihrem Brief zwar keine Diagnose mit, ließ mich aber wissen, dass sie „endlich in guten Händen“ wäre. Und auch, wenn es vielleicht seltsam klingt, war ich in dem Moment vor allem erleichtert, endlich Bescheid zu wissen!
„Vielleicht habe ich Jessica ja wirklich Unrecht getan.“
„Na ja, ich weiß nicht so recht.“ So ganz war meine Mutter noch nicht überzeugt, aber ich bin sicher, Jessica hat mir ihre Erkrankung bei unserer Hochzeit nicht absichtlich verschwiegen. Ich glaube, sie wusste selbst nicht so genau, was mit ihr los war. Und was ich anfangs für persönliche Eigenarten und später für puren Egoismus gehalten habe, war offenbar ein Schicksal, mit dem niemand tauschen will.

Sobald Toby alt genug ist, werde ich ihm erklären, dass seine Mama ihn nicht verlassen hat, sondern krank ist. Jessica ist kein schlechter Mensch, sie braucht Hilfe und das ist ein ganz großer Unterschied! Und vor allem ist eine Krankheit etwas, was unser Sohn verstehen und akzeptieren kann, ohne sich dabei ungeliebt zu fühlen. Denn natürlich hängt der Kleine immer noch sehr an seiner Mutter, ganz genau wie jedes andere Kind auch! Toby ist inzwischen im Kindergarten und als er letztens ein selbst gemaltes Bild mit nach Hause gebracht hat, hat er ganz stolz vorgeschlagen, es seiner Mama zu schenken.
„Ja, das schenken wir Mama! Da wird sie sich freuen!“

Wie es mit uns weitergeht? Ich weiß es nicht. Jessica und ich sind mittlerweile einvernehmlich geschieden und obwohl sie sich seit ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus halbwegs stabilisiert hat, wird sie möglicherweise nie die Art von Mutter sein können, die andere Kinder haben. Aber sie ist die einzige Mutter, die Toby hat und deshalb werde ich auch alles daransetzen, dass er sie regelmäßig sehen kann. Alles andere wird sich finden. Und immerhin bin ich ja auch noch da.



* Die Personen und die Handlung dieser Geschichte sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig. Spezielle Schreibweisen (Fachbegriffe, Gender-Bezeichnungen usw.) wurden in der von der Autorin übermittelten Form übernommen.

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